Im Juni 2020 wurde ich von Hannah Politor gebeten einen Beitrag für ihren Blog "Was ist Kirche?" zu schreiben. Hier ist meine Antwort: "Von der Kirchenbank auf die Parkbank".
Ein Gott. Viele Menschen.
Ein Herz. Eine Seele.
Kein Eigentum. Alles Gemeingut.
Keiner einsam. Alles gemeinsam.
Angelehnt an Apostelgeschichte 4,32 („Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele, und nicht einer nannte etwas von dem, was er besaß, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam.“, Zürcher Bibel) zeugt dieser Bibelvers von einer sehr visionären, nahezu idyllisch verklärten Beschreibung von Kirche.
Unrealistisch? Utopisch? Nicht realisierbar?
Ich glaube dennoch daran!
Ein kühler, sonniger Sonntagmorgen im Februar in Washington DC: ich war relativ alleine zu Fuß auf einer kleinen Durchzugsstraße zu einem Gottesdienst in der Nähe meines Hostels unterwegs. Da bewegte sich plötzlich – zwischen einem halben Dutzend Plastiktaschen am Boden und mehreren Schichten von dicken Decken mit Plastikplanen darüber – „etwas“ auf einer Parkbank. Ich verlangsamte mein Tempo und starrte in die Richtung. Ein älterer schwarzer Mann, selbst eingepackt in mehrere Schichten von Kleidung, wuselte auf „seinen wenigen Quadratmetern“ geschäftig auf und ab. Die Haube saß etwas schief auf seinem Kopf. Da entdeckte er mich. Wir sahen uns an. Er zögerte ein wenig peinlich berührt, aber begann sogleich zu lächeln. Ich, ebenso zögerlich, blieb stehen und lächelte zurück. Wir näherten uns einander. Da sah ich, dass er mehr Zahnlücken als Zähne im Mund hatte. Ich dachte an die fortgeschrittene Zeit und dass ich nicht zu spät in die Kirche kommen sollte. Sie war schon in Sichtweite; der Mann lagerte sich quasi im Schatten des Gebäudes.
Ich wollte weitergehen. Doch da spürte ich es ganz klar in mir, wie wenn Jesus zu mir sagen würde „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan…“ (Matthäus 25,40). Und so verweilte ich und sprach ihn direkt an: Wie es ihm ginge, heute, so mit dieser Kälte und ob ich ihm eine Mozartkugel aus Österreich schenken dürfte. Ich hatte gerade noch eine übrig, wie für ihn bestimmt. Und während ich sie aus der Tasche zog, kommentierte er breit grinsend meinen „herzigen“ Akzent. Er nahm das kleine Mitbringsel überrascht aber gerne an. Wir unterhielten uns noch einige Minuten. Ich machte ihm Mut und fragte behutsam, ob er etwas Essen gebrauchen könnte… ich hätte noch ein kleines Picknick bei mir: süße Weintrauben, ein paar Cracker, nicht viel. Er freute sich wie ein kleiner Schuljunge über ein neues Mickey-Mouse-Heft. Ich überreichte die Kleinigkeiten und als wir schließlich unsere Namen austauschten, konnten wir beide diese nahezu „göttliche“ Begegnung nicht mehr verleugnen. Wir verabschiedeten uns sichtlich berührt indem wir uns umarmten und einander einen gesegneten Sonntag wünschten. Und gesegnet war er allemal: Jesus war so spürbar in unserer Mitte, dass ich von dieser herzlichen Begegnung noch heute zehre. David zaubert mir noch jetzt ein Lächeln auf mein Gesicht.
Ist Kirche nicht genau das?
Den Nächsten lieben, egal ob arm oder reich.
Gott anbeten, egal ob in der Kirchenbank oder am Arbeitsplatz.
In der Apostelgeschichte 2,38-41 lesen wir, dass durch Petrus´ Pfingstrede an jenem Tage 3000 Menschen zur „Gemeinde“ hinzugefügt werden. Eigentlich steht das Wort „Gemeinde“ im Griechischen direkt gar nicht dort. War für die Hörer des Briefes klar, was gemeint war?
Menschen wurden hinzugetan: wem oder was? Einer größeren, höheren Sache…!? Jedenfalls zeugt die verwendete Phrase von einer Entität, einer Einheit, und das obwohl die Gläubigen selbst scheinbar noch gar keinen Namen für diese „Art“ ihrer Gemeinschaft hatten. So bezeichneten sie sich selber auch nicht von Anfang an als „Christen“. Dieses Attribut „dem Christus Gehörige“ würde ihnen erst im Laufe der nächsten Jahrzehnte, anfangs sogar spöttisch, zugeschrieben.
Ist Kirche nicht genau das?
Teil eines Ganzen sein, ungeachtet welcher Teil des Körpers man ist;
Egal ob klein oder groß, verletzt oder stark.
Hauptsache Christus ist das Haupt.
Gerade in den letzten Wochen frage ich mich verstärkt, ob wir uns nicht unserer eigentlichen Verantwortung (gleichsam unserer Bestimmung) in und für diese Welt (bewusst) entziehen.
Wir sind gerne in unseren eigenen vier Wänden, die wir gerade jetzt in der Coronazeit noch mehr zu schätzen gelernt haben und dementsprechend aufgepeppt oder verschönert haben.
Wir fühlen uns wohlig warm, so vertraut und geborgen, wenn wir „in unserer Kirche“ einen Dienst verrichten. Welche Ehre „dies und das“ machen zu dürfen: Lobpreis, Moderation, Kinderdienst, Predigt, Organisation einer Gemeindefreizeit. Und wir nehmen gern das anerkennende Lob der anderen entgegen.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr stößt mir diese „Selbstbeweihräucherung“ auf. Versteht mich nicht falsch, diese Dinge sind wichtig. Aber wir sollten die Art unseres Dienstes, die Motivation unserer Herzen, überdenken.
Im Lockdown waren Supermärkte und Apotheken „systemrelevant“, aber Kirchen mussten geschlossen bleiben. Gottesdienste verlagerten sich ins Internet (wo sie mehr Menschen erreichten als je zuvor). Das gemeinschaftliche Leben (Gebetskreise, Hauskreise, Schulungen etc.) musste mindestens halblang machen.
Ist das Kirche?
Ausgeschlossen, alleine gelassen.
Einsam statt gemeinsam?
Wer kümmert sich um die immer größer werdende Masse der Einsamen, der Alten, der Witwen, der Verwaisten, der Singles?
Wer erweist ihnen die Liebe, die sie suchen? Die jeder Mensch sucht.
Was ist Kirche und was ihre Aufgabe?
Was ist ihr Fundament und ihre Perspektive?
Chun-Min Kang schreibt in seinem Buch „Tief verwurzelt in Christus“ (Chun-Min Kang, Tief verwurzelt in Christus. Schritte zum Innehalten, Fulda 2009, S. 36) folgendes:
„Jesus ist das Fundament unseres Lebens als Christen. Menschen bauen ihr Leben oft auf den wackeligen Fundamenten von Philosophie, Autonomie, menschlicher Moral, Ethik, Besitz, Macht und Eigennutz auf. Aus rein weltlicher Sicht mag das ja alles wichtig sein, aber wenn wir das Ganze aus der Perspektive der Ewigkeit betrachten, verändert sich die gesamte Sichtweise. Aus dem Blickwinkel der Ewigkeit betrachtet, sind solche Fundamente so kurzlebig wie das Gras auf dem Feld.
Wenn wir geistlich Gestalt annehmen möchten, dann bedeutet das, ein solches ewiges Fundament zu errichten und alles aus der Ewigkeitsperspektive zu betrachten. Wenn wir das tun, haben wir das Dauerhafte im Blick, und nicht das Vergängliche; nicht weltliche Dinge, sondern das Reich Gottes. Dann ist das Reich Gottes in uns angebrochen.“
Diese Reich Gottes Sicht wünsche ich mir für die Kirche(n). Denn wie schön wäre es, wenn wir bereits hier auf Erden zum Schulungsort für diese Ewigkeitsperspektive werden würden:
Den Blick auf die Ewigkeit gerichtet,
aber beide Beine in der Welt,
helfende Arme,
Ohren, die zuhören,
ein Mund der Gerechtigkeit ausspricht
und die Welt als besseren Platz für unsere Nachfahren hinterlässt,
wenn wir bereits im Himmel, bzw. bei Gott, sind.
So den Himmel auf die Erde bringen.
Denn wir sind alle Gast auf Erden.