„Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ (Lukas 6,36)
Predigt von Verena Schnitzhofer - Baptistengemeinde Wien-Mollardgasse am 3. 1. 2021
NACHSCHAUEN:
Predigt startet bei Minute 12:25!
NACHLESEN:
Barmherzigkeit hat viele Aspekte. Die Bibel ist voll davon. In der Lutherbibel kommt „Barmherzigkeit“ 154x vor, „barmherzig“ 24x.
Im Vergleich dazu Gnade 274x (gleich oft wie übrigens das Wort „Sünde“), gnädig 110x.
Es gibt natürlich viele Aspekte.
Heute will ich lediglich drei ein wenig beleuchten.
1. Geld: „Almosen (lat. eleminosina) geben“
In der Endphase meines Studiums (ich schrieb schon an der Diplomarbeit und arbeitete deshalb nicht mehr nebenher), musste ich mit nur 70-100 € im Monat ausgekommen. Heute unvorstellbar, damals konnte man gut überleben… wenn man seine Ernährung auf das Mindeste reduzierte: nämlich Nudeln mit Arrabbiata-Gewürz, das noch vom Italien-Erasmussemester aus nostalgischen Gründen den Küchenschrank besiedelte. Und dazwischen etwas Gesundes: also ein Apfel aus einer Großpackung, weil die billiger war, einer vormittags und einer nachmittags. Der Schokogusto musste aufgeschoben werden…
Doch dann sagte sich Besuch von zwei Schweizerinnen an, die bei mir in meiner bescheidenen 1-Zimmer-Wohnung einige Tage übernachteten. Sie entdeckten tagsüber die Stadt, ich durchforstete meine Bücher und schrieb fleißig an der Abschlussarbeit, abends wurde gemeinsam gekocht. Sie hatten wohl Mitleid mit meinen momentanen, armseligen Umständen und erklärten sich bereit, mich zu bekochen; auch alleine schon als Dankeschön für „meine“ (naja?!) Gastfreundschaft. So wie meine zusätzliche Nachmittagsbelohnung, die fortan aus ihrer 50er Packung „Branchli“ (Schweizer Schokoriegel) genährt wurde. Wie durch ein Wunder lebte ich davon und von eingangs erwähnter Packung Kräuter und Äpfel gut einige Wochen. Es wurde einfach nicht weniger!
Denken wir nochmals an Weihnachten zurück. Oft ist es so, dass wir den Wert des Geschenks, das wir erhalten haben, im Laufe des Jahres in irgendeiner Form „zurückzahlen“ wollen. Wir überlegen oft fieberhaft, wie wir das wieder ausgleichen können…
Aber ist nicht ein Geschenk, ein Geschenk? Warum fällt uns das so schwer?
Als ich mein Studium beendet hatte, und bereits bei der ÖSM arbeitete, besuchte ich eine Freundin, die im Ausland studierte. Im Gespräch stellte sich rasch heraus, dass sie kaum Geld hatte, um über die Runden zu kommen. Ihre Situation „bewegte mich zutiefst im Herzen“.
Und mir geht es gut: ein „Kaffee mit Freunden“ inkl. Torte ist wieder drinnen. Ich hatte spontan den Gedanken sie 1 Jahr lang mit €20 im Monat direkt zu unterstützen. Nicht viel Geld für sie, aber dennoch eine Unterstützung. Es fiel mir schwer diese „läppische“ Zuwendung zu formulieren und auszusprechen. Ich wollte sie ja auch nicht beschämen oder in eine Abhängigkeit drängen. Schließlich sagte ich ihr ehrlich was ich dachte und dass ich sie von Herzen gern beschenken würde. Sie stimmte erleichtert zu. Es war einfach: der Dauerauftrag war rasch eingerichtet. Fortan bekam ich regelmäßig Berichte, was diese kleine Summe monatlich anstellte: frisches Gemüse vom Markt tat wohl und bereitete Freude. Nicht nur meiner Freundin.
Die Spendenfreudigkeit ist statistisch gesehen hoch in Österreich, kein Wunder, wir zählen auch zu den reichsten Ländern dieser Erde.
Aber bei „Barmherzigkeit“ geht es nicht nur um Geld, obwohl es nahe liegt: das Lateinische eleminosina heißt „Almosen geben“ und das Griechische elehmosunh kann mit „tätiges Mitleid“ wiedergegeben werden. Eine „Unterstützung z.B. der Armen“ also; eine aus Mitleid oder tätige Nächstenliebe gereichte Gabe; auch billige Abspeisung.
„Seine zu Armut teilen“ ist aber ein wichtiger Punkt.
Wer selbst Barmherzigkeit erlebt hat, wird auch anders mit seinen Mitmenschen umgehen, oder?
Und wie war das gleich noch mit den „Lilien auf dem Feld“ und den „Vögeln im Himmel“ (Matthäus 6,19-34, SLT)?
31 Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen?, oder: Was werden wir trinken?, oder: Womit werden wir uns kleiden? 32 Denn nach allen diesen Dingen trachten die Heiden, aber euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles benötigt.
In den nachfolgenden Versen sind weitere spannende Aspekte enthalten:
33 Trachtet vielmehr zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch dies alles hinzugefügt werden! 34 Darum sollt ihr euch nicht sorgen um den morgigen Tag; denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Jedem Tag genügt seine eigene Plage.
2. Recht und Gerechtigkeit
Barmherzigkeit ist irgendwie ein Zwilling von Recht und Gerechtigkeit. Auch die Stelle der Jahreslosung 2021 ist in diesen Kontext eingebettet. Sie ist eingereiht nach den Seligpreisungen und der Feindesliebe. Bei manchen Übersetzungen (z.B. Schlachter) ist unser Vers 36 der Abschluss dieses Gebots der Feindesliebe:
35 Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen; so wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
36 Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
… bei anderen Übersetzungen sind die Absätze anders angelegt: bei Luther z.B. oder auch in der „Guten Nachricht“ ist Vers 36 der Einstieg für das was danach kommt:
36 »Werdet barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist!
37 Verurteilt nicht andere, dann wird Gott auch euch nicht verurteilen.
Es geht um Gericht; Verzeihen und großzügiges Beschenken.
Das im griechischen Urtext verwendete Wort ist οἰκτίρμων,a und wird im Deutschen mit „mitleidig“, „barmherzig“ übersetzt. Das Englische verwendet “merciful“ (full of mercy, voll von Gnade/Barmherzigkeit).
Γίνεσθε οἰκτίρμονες καθὼς [καὶ] ὁ πατὴρ ὑμῶν οἰκτίρμων ἐστίν. (Lukas 6,36)
Schon im AT wollte Gott, dass sich die Menschen an ihm orientieren und von seinem Charakter lernen barmherzig zu sein oder mindestens so zu handeln wie er: im Zuge der 10 Gebote am Sinai erlässt Gott auch Rechtsbestimmungen u.a. bei Totschlag, Schäden etc., aber auch einen Schutz für Sklaven (also Unfreie) und Schwache (sozial Benachteiligte) wie z.B. Fremde, Witwen, Waisen; die auf sich alleine gestellt waren und sonst eigentlich keinen rechtlichen Schutz hätten.
„Denn der HERR, euer Gott, Er ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große, mächtige und furchtgebietende Gott, der die Person nicht ansieht und kein Bestechungsgeschenk annimmt, der der Waise und der Witwe Recht schafft und den Fremdling lieb hat, sodass er ihm Speise und Kleidung gibt.“ (5. Mose 10,17-18 SLT)
Der deutsche Dichter Andreas Gryphius (1, 724) schreibt im 17. Jh. folgenden Vers:
„Er machte ihm die Augen mit Speichel nass, und sah so barmherzig aus,
dass alle alten Weiber weinen mussten.“
Wir alle kennen das: ein Blick eines bettelnden Menschen, Bilder aus den Medien (die erbärmlichen Zustände in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln)… sie alle
lösen ein Gefühl aus:
„Mitleid kann entweder lediglich traurig machen oder auch zu einer Aktion führen, um das Leid des anderen zu verringern. […] Barmherzigkeit ist eine Motivation, die für andere das Beste will – und Barmherzigkeit schreitet zur Tat, während Mitleid sich oft in Worten oder guten Vorsätzen erschöpft.“ (Edwin Keimer, GMU-Gemeindeblatt Dez 20.)
3. Und Barmherzigkeit kann geübt werden.
Am besten von klein auf!
Kater Thommy war abgängig. Zwei Tage lang suchte die ganze Dorfgemeinschaft umliegende Felder und Wälder nach dem kleinen Kater ab. Erfolglos. Auch die Straße wurde mehrmals kontrolliert, ob ihn auch kein Auto zusammengeführt hat. Er blieb verschwunden. Bis die kleine fast 4-jährige Tochter einer Freundin draußen vor dem Haus spielte und ein leises Jammern vernahm. Es wurde lauter… und sie machte sich auf die Suche nach der Quelle. Gleich erkannte sie in dem ungewöhnlichen Geräusch ihren Spielgefährten, doch wo war er nur? Sie rief seinen Namen „Thommy“! Das Jammern wurde fast ein Jaulen. Sie rief ihre Eltern, die bei der Suche mithalfen. Schließlich und endlich wurde er entdeckt: neugierig wie er war, war er in ein Abflussrohr hineingerutscht, das unter dem Parkplatz verlief und dessen Gelände abfallend war. Er konnte sich nicht aus eigener Kraft befreien; nicht nach oben hinauskriechen und in die Freiheit gelangen. So saß er unter dem Asphalt fest und konnte weder nach oben noch nach unten, obwohl der Ausgang so nahe gewesen wäre…
Ergeht es uns in unserem Leben nicht auch so? Wir sitzen fest, wissen weder vor noch zurück. Hocken alleine im Dunklen, sind gefangen. Es braucht Hilfe von außen! Jemand dem sein Herz erbarmt und der eingreift!
Als Christen dürfen wir dankbar wissen, dass Gottvater im Himmel barmherzig ist! Er greift ein: In unsere aussichtslose Situation hat er Jesus geschickt. Seine Menschwerdung feierten wir ja erst zu Weihnachten.
Papst Franziskus schrieb in seiner Fastenbotschaft von 2016 diesen treffenden Satz:
„Die Barmherzigkeit »drückt [dann] die Haltung Gottes gegenüber dem Sünder aus, dem er eine weitere Möglichkeit zur Reue, zur Umkehr und zum Glauben anbietet« (Misericordiae Vultus, 21), um auf diese Weise die Beziehung zu Ihm wiederherzustellen. Im Gekreuzigten geht Gott schließlich so weit, den Sünder in seiner äußersten Entferntheit erreichen zu wollen, genau dort, wo dieser sich verirrt und von ihm abgewandt hat. Und dies tut er in der Hoffnung, dadurch endlich das verhärtete Herz seiner Braut zu rühren!“
Ich zeige euch hier ein Foto von dem Linolschnitt einer norddeutschen Künstlerin, Bildhauerin und Autorin. Nicole Schenderlein (alias Greenwomen) geht es in ihrer Kunst und ihren Texten hauptsächlich um die Themen Trauer und Neubeginn.
Siehe Nicole Schenderleins Blogbeitrag dazu.
Im Mittelpunkt des Werkes ist das Herz eines Menschen zu sehen: ein dynamisches, kraftvolles, impulsives Herz. Der Hintergrund ist nicht starr, sondern etwas ausgefranst: für mich impliziert er eine Stoßrichtung nach außen, gleichsam einem Strahlenkranz, der von Innen genährt nach außen wirkt. Vom Herz geht pulsierendes Leben aus. Im Zusammenspiel der beiden Herzkammern könnte man auch die Initialen J.C. für Jesus Christus erkennen, wenn man will. Ein Hinweis, ein Hindeuten auf Christi Menschwerdung?
Barmherzigkeit hat Auswirkungen! Das Blut bleibt nicht alleine im Herzen gefangen, sondern wird durch den ganzen Körper gepumpt, versorgt alles, belebt alles.
Nicole Schenderlein schreibt zur Jahreslosung:
„Denn das bedeutet Barmherzigkeit: Sich selbst zu entblößen, sich ein Stückchen verletzlich zu machen. Es ist gewagt, aber so entsteht Nähe, Begegnung, Wärme.
Nicht umsonst hat Gott seinen eigenen Sohn, einen Teil von sich selbst, schutzlos als Baby in diese Welt gegeben. In unsere menschlich grobe Obhut. Er hat sich selbst dem Grauen der Welt ausgesetzt. Für uns. Und wir dürfen darauf zurückgreifen. Jeden Tag neu.“
Kater Thommy konnte sich nicht selber befreien, er brauchte die Hilfe von außen. Die herbeigerufenen Gemeindearbeiter leuchteten mit einer Schlauchkamera in den Tunnel, um die Lage zu checken. Der Spieltrieb des Katers, diesen kleinen Lichtstrahl zu fangen, war noch vorhanden und lockte ihn ans untere Ende der Röhre, wo bereits Arme nach ihm griffen und er aus dem Schacht herausgezogen werden konnte.
Die „Entblössung“ und Menschwerdung Christi haben wir gerade zu Weihnachten gefeiert. Und wir dürfen wissen: sein Herz schlägt für uns. Gott wurde als Mensch geboren und lag in einer Krippe. Doch er blieb nicht im Holz der Krippe liegen, sondern ließ sein Blut am Holz des Kreuzes für uns zu Ostern.
Bei der Berufung des Zolleinnehmers Matthäus sagte Jesus in Matthäus 9,13 (SLT):
13 Geht aber hin und lernt, was das heißt: »Ich will Barmherzigkeit und nicht Opfer«. Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder zur Buße.
Lasst uns unsere Motive prüfen und im Jahr 2021 bewusst auf den Vater schauen.
AMEN.