[Text aus der Studienzeit in Wien]
Agathe ist Frühaufsteherin.
Sie genießt es, als eine der ersten außer Haus zu gehen und der Sonne beim Aufstehen zuzuschauen. Sie liebt den Geruch von frischen Semmeln, und das Geräusch, wenn Bewegung in die Stadt kommt. Leidenschaftlich gerne fährt sie Straßenbahn und beobachtet dabei schmunzelnd die Leute, die auf den Gehsteigen zur Arbeit hasten. Sie hört auch den Vögeln beim morgendlichen Gesang gerne zu und versucht dabei diese innere Freude auch auf die Menschen, die ihr begegnen, zu übertragen. Agathe lächelt prinzipiell jeden an. Sie hilft oft, wenn eine Mutter den schweren Kinderwagen in den Zug heben will. Oft steht sie auch auf und verschenkt ihren Sitzplatz an einen älteren Menschen. Der Dank, den sie dabei erfährt, erfüllt sie den ganzen Tag; was zur Folge hat, dass sie einfach nur fröhlich und zufrieden sein kann. Dankbar für jeden Käfer, der auf dem Boden krabbelt, dankbar für jede Wolke, die Regen für die vertrockneten Blumen bringt. Dankbar für jedes Auto, das stehen bleibt, damit sie die Straße gefahrlos überqueren kann.
Agathe, die Gute, geht frohgemut durch die Welt. Aber das ändert sich eines morgens, als sie vergisst ihre Wunderbrille aufzusetzen:
Der Toast brennt an und grantig schlürft sie den Orangensaft hinunter. In der Straßenbahn macht sie nicht Platz für einen alten Herrn mit Stock, der sie daraufhin prüde anblickt. Der Regen, der auf die trockene Straße fällt, bereitet ihr Sorgenfalten, da sie auch den Regenschirm zu Hause vergessen hat, und somit völlig durchnässt zur Arbeit kommt... was zu einer Verkühlung führt. Da hilft alles nichts: Agathe muss das Bett hüten. Als sie so daliegt und über das Leben nachsinnt und überlegt, warum es sich so zum Schlechten verändert hat, fällt ihr wieder die Wunderbrille ein. Bis jetzt hat sie sie jeden Tag getragen. Sie hat ihre Welt- und Weitsicht verschönert und blühend gemacht. Ohne diese Brille allerdings ist alles nur fahl und grau. „Was soll´s? Wozu immer diese Schöntuerei? Eigentlich führt es auch zu nichts...“ Sie beschließt, sie von nun an nicht mehr zu tragen.
Als am nächsten Morgen überraschenderweise frische Blumen, neben dem Haufen von gebrauchten Schneuztüchern, auf ihrem Nachtschränkchen stehen, will sie schon zum Fluchen ansetzen und sich über deren kräftigen Duft ärgern. Doch bevor es dazu kommt, entdeckt sie, dass jedes Blütenblatt unterschiedlich gemacht zu sein scheint und bei noch genauerer Betrachtung fällt ihr gar auf, dass jedes tatsächlich individuell ist. Jedes ist auf seine Weise schön und vollkommen! Ein kleines, strahlendes und überraschtes Augenblickchen erfüllt ihr blasses Gesicht. Die Wangen färben sich zartrosa und ihr Herz beginnt zu sprechen: „Wenn wir in den kleinsten Dingen GOTTES WIRKEN sehen können und das auch ohne eine scharfe Sehhilfe wie die Wunderbrille, wenn wir dankbar sein können, dass wir leben und es trotzdem warm in unseren Herzen sein kann – trotz dieser kalten, hektischen und verirrten Welt – dann muss es sich doch lohnen zu leben?“
Agathe steht auf, öffnet die Vorhänge und das Fenster und ein sanfter Sonnenstrahl bahnt sich seinen Weg in das Zimmer.
Copyright: Verena Grafinger (Schnitzhofer), 8. November 2002