Wir haben gestern diesen Film (vom Schweizer Regisseur Milo Rau) angeschaut: Das Neue Evangelium.
Prädikat: *****
Ein sehr empfehlenswerter, sozialkritischer und aufrüttelnder Film.
Anfangs etwas unübersichtlich anmutend, da gefühlt zu viel hinein gepackt und verschachtelt dargestellt wurde... aber wenn man versucht sich auf die Thematiken bewusst einzulassen, schwingen viele Bereiche an und nach. Die geistige Ebene wird eher ausgeblendet, da das Hauptaugenmerk auf die soziale (Un-) Gerechtigkeit gelegt wurde, aber die neu erzeugten Bilder und Verknüpfungen lassen unseren Auftrag dennoch klar(er) ins Heute hinein schreiben.
Was wir doppelt genial finden: Filmschauen (24-Stunden Streaming) und gleichzeitig Gutes tun; denn dieser Film unterstützt ein Kino deiner Wahl mit dem vorher bezahlten Ticketpreis. Und das ist lobenswert, da diese noch immer geschlossen bleiben müssen...
Also neben vielen Kinos in der Schweiz (Extraseite) und Deutschland sind in Österreich zwar nur vier beteiligt (Moviemento Linz, Kinotreff Leone Bad Leonfelden, Adlerkino Haslach, Admiral Kino Wien), aber das reicht ja!
"Das neue Evangelium" läuft mehrsprachig (Italienisch, Französisch, Englisch, ein wenig Deutsch) - das liebte ich besonders; aber mit deutschen Untertiteln) auf mehreren (mindestens drei) Ebenen ab:
- FLÜCHTLINGSDRAMA - Einerseits wird die beinharte, menschenverachtende Realität im Flüchtlingslager Matera in Süditalien quasi dokumentiert. Die dorthin geflüchteten Personen (meist aus Afrika) verhelfen den Italienern (und uns) tagtäglich dazu, dass frisches Gemüse auf unseren Tellern landet. Und sie protestieren ("Revolte der Würde") zu Recht: "Wir sind Menschen. Auch wir haben eine Würde" stellt der Aktivist Yvan Sagnet gleich zu Beginn in perfektem Italienisch auf einem Feld fest, als er davon erzählt, dass ein Freund neben ihm unter der brütenden Hitze zusammenbricht, aber ihm nicht geholfen wird/werden darf. Der sehr sympathische und charismatische Kameruner tritt in mehreren Rollen auf: als er selbst und als Jesus. Er ist quasi der rote Faden, die Storyline.
- FILMDOKU - Weiters werden diverse Schauspieler und besonders Laien (Bürger aus Matera) auf mögliche Filmrollen hin gecastet und Vorort ausgewählt. Der Film lässt also gleichzeitig hinter die Kulissen blicken: als Zuschauer sieht man Crew, Handwerker und Stylisten gleichermaßen und wird in Überlegungen der szenischen und schauspielerischen Umsetzung gleichsam einbezogen. Das macht den Film greifbar und nahbar. Beispielsweise imponiert Enrique Irazoqui als liebenswürdiger Johannes der Täufer (Jesus-Darsteller im alten Jesusfilm von Pier Paolo Pasolini, auch in Matera gedreht: "Il vangelo secondo Matteo", 1964), sowie Maia Morgenstern, die erneut als Mutter Jesu (gleiche Rolle in Mel Gibsons Film "The Passion of the Christ", 2004) ausdrucksstark zu sehen ist. Oder der Bürgermeister von Matera, der sich die Rolle des Simon von Kyrene an den Leib schneidern lässt oder ein junger Mann, der eine Rolle als römischer Soldat "interessant" finden würde, da er sonst immer so brav sei etc.
- JESUSFILM: VOM DAMALS INS HEUTE: immer wieder flackern (lieblich anmutende, sanfte Schwarz/Weiß) Szenen des alten (Pasolini) Films auf und kontrastieren die krasse, bunte, authentische Realität des "neuen Evangeliums". Milo Rau und seinem Kameramann Thomas Eirich-Schneider gelingen ausdrucksstarke Bilder, die nahezu monumentale Eindrücke hinterlassen und/oder auch neue Bilder schaffen (siehe Filmcover - das letzte Abendmahl) und direkt in den Alltag der Flüchtlinge übertragen.
"Ziel war es, den ursprünglichen Geist als Passionsgeschichte der sozial Benachteiligten, der Armen, der Arbeitslosen, der Ausgestoßenen, der Ausgegrenzten und der Flüchtlinge zu bewahren. Allein in Italien leben mehr als 500.000 Menschen im Untergrund in inoffiziellen Lagern." (Zitat Website)
Bewundernswert finden wir, dass parallel ein krasses Projekt vom Jesusdarsteller Yvan Sagnet auf die Beine gestellt und vorgestellt wird, nämlich eine "Tomatensauce ohne Mafiafinger". Das stolze Ergebnis, dass Veränderung möglich ist, wenn Menschen motiviert (werden) und sich gemeinsam für eine faire Sache einsetzen (dürfen/können).
NO CAP-Produkte (Zitat Website):
"Yvan Sagnet gründete 2017 den Verband NO CAP – no al caporalato Als „Caporalato” bezeichnet man das kriminelle System das die Mafia auf den Feldern und in den Ghettos Süditaliens eingerichtet hat. NoCap setzt sich gegen die Ausbeutung von Landarbeitern ein und kämpft für bessere, ethischere Arbeitsbedingungen. Dazu gehören u.a. faire Entlohnung, geregelte Arbeitsverträge und Zugang zu medizinischer Versorgung. Ergebnis dieses sozialen Engagements sind ethisch und nachhaltig produzierte Lebensmittel mit dem Gütesiegel NO CAP."
Diese Nocap-Produkte sind leider offenbar in Österreich noch nicht verfügbar.
Alle Infos zum Film "DAS NEUE EVANGELIUM" unter: https://dasneueevangelium.de
Trailer zum Film: